Mein Großvater Harry Wustrau war kaiserlicher Marinebaurat und leidenschaftlicher Konstrukteur von Segelyachten. Auch nachdem er seine Olga geheiratet hatte und nacheinander die Töchter Erika, Gerda und Edelgard zur Welt gekommen waren, ließ er weiterhin jedes Jahr wenigstens ein Schiff bauen, auf dem die Familie den Sommer verbrachte, bis es verkauft wurde und Platz machte für das nächste.
Schließlich ist es meiner Großmutter zu viel geworden, den Kindern das Laufen an Bord beizubringen und ständig Windeln in den Wanten zum Trocknen aufzuhängen. Man beschloß, das restliche Vermögen - die Inflation näherte sich 1922 dem Höhepunkt - in einem Stück Land des jungen Ostseebades Schilksee anzulegen.
Nach Ideen des Schiffsbauers und manchen Anregungen des damaligen Stadtbaurates Pauly hat die Firma Ernst Carstens, Kiel-Pries, das Haus SCHIPPERS RUH ganz aus Holz errichtet. Obwohl es einfach ausgestattet wurde (einige Türen und Fenster wurden Altbauten entnommen), liefen die Kosten wohl mächtig aus dem Ruder. Davon zeugte der Richtspruch: "Bauen is en Lust; wat kost', hett keener wusst!", der viele Jahre noch in der Küche prangte.
Von nun ab verbrachten die Wustraus möglichst jeden Sommer in ihrem Häuschen. Schilksee wurde zur 2. Heimat der nun in Berlin lebenden Familie. Wenn das Haus leer stand, sorgte das Ehepaar Kemnitz dafür, dass Ordnung herrschte. Auf den beiden nicht bebauten Nachbar- Grundstücken ließ Bauer Schnack seine letzte Kuh weiden.
Als meine Mutter, die älteste der 3 Töchter, 1933 heiratete, mußte die südlichste Parzelle verkauft werden, damit die Braut eine "Aussteuer" mit in die Ehe bringen konnte. Dort baute dann der Kieler Fabrikant Fritz Hecht. Seine Erben verkauften das Grundstück vor der Olympiade 1972 an die Stadt Kiel, die daraus den Durchgang "Blinkfüer" vom Kurpark zur Strandpromenade machte.
Als 1938 die nächste Tochter den Bund für's Leben schließen wollte, war mein Vater Erich in der Lage, die letzte unbebaute Parzelle zu kaufen und so der Familie zu erhalten. Sie sollte in den Hungerjahren nach dem 2. Weltkrieg unser Gemüse- und Erdbeerland werden.
Denn gegen Ende des Krieges kamen ganzjährige Bewohner nach SCHIPPERS RUH: zunächst meine Großeltern, die vor den Bombenangriffen aus Berlin geflohen waren; dann - nach dem Tod von Harry Wustrau 1945 - die 3 Töchter mit ihren insgesamt 5 Kindern und 2 Schwiegersöhnen. Mein Vater war in den letzten Kämpfen um Berlin umgekommen.
Schon im nächsten Winter waren die beiden Schwiegersöhne mit ihren Familien wieder ausgezogen. Großmutter Olga blieb mit Tochter Erika und den Enkeln Gerda und Reinhart die folgenden 7 Jahre in SCHIPPERS RUH. Einige Jahre lang stärkte noch Neffe Heiko das männliche Element, der - aus der Kriegsgefangenschaft gekommen - nicht zu seiner Mutter in die sowjetisch besetzte Zone konnte.
Es waren harte Jahre, insbesondere für die ältere Generation. Es gab wenig zu essen und zu heizen, das Haus war so schlecht isoliert, dass regelmäßig die Wasserleitung im Winter einfror. Durch Kälteeinwirkung verlor meine Mutter 1947 ein Auge und die Großmutter kam wiederholt mit großen Magen-/Darmproblemen ins Krankenhaus.
Aber für uns Kinder waren es - trotz aller Not - schöne Jahre. Wir erlebten die Jahreszeiten in ihrem Wechsel viel intensiver, als es heute möglich ist: von Mai bis Oktober liefen wir tagein tagaus barfuß, nicht nur zu Hause und im Garten, sondern auch beim Einkaufen und in der Schule. Meine Schwester - trainiert von Lehrer Hase auf den Schlaglöchern der Schilkseer Straße - schaffte bei einer Landesmeisterschaft sogar einen 3. Platz im Laufen, natürlich ohne Schuhe. Und barfuß ging es im Herbst auf die Stoppelfelder zum Ährenlesen u. ä. Das Schuhwerk für den Winter erbte man von Geschwistern oder erhielt es auf merkwürdigen Wegen. So durften ich und ein anderer Schüler der Mittelschule Pries einmal den Rektor Hummel nach Kiel begleiten, wo wir beide ein Paar getragene Schnürstiefel aus einer Mennoniten-Spende erhielten.
Am Strand lag direkt vor unserem Haus das ausgebrannte Wrack eines Wasserflugzeugs (Flüchtlinge waren in den letzten Kriegstagen damit gelandet). Hier fanden sich immer viele Kinder ein, die entweder in das Innere kletterten oder vom Ufer aus Steine auf die Wellblechhaut warfen. Angetriebene Rettungsflöße oder die dicken Eisschollen im Frühling benutzten wir, um am Ufer entlang zu staken. Später durften wir auf Angelbooten rudern bzw. segeln. Ein kräftiger Schutzengel begleitete uns bei allen Aktivitäten...
1952 gelang es meiner Mutter, eine kleine Wohnung in Kiel zu mieten. Nun waren wir näher an Schulen und Lehrstellen, doch gern wären wir im Sommer wieder in Schilksee gewesen. Aber grade dann wollten die inzwischen 9 Kusinen und Vettern aus Hamburg und Berlin auch ein wenig Ostsee- Luft schnuppern. So reifte 1956 der Entschluß, auf der freien Parzelle ein kleines Häuschen zu errichten. Nach eigenen Plänen - meine Mutter hatte schließlich Architektur studiert - entstand Haus FROHSINN. Wieder baute es die Firma Ernst Carstens, diesmal allerdings in Stein.
Damit besaßen wir ein einfaches Sommerhaus mit einem herrlichen Garten, in dem meine Mutter von Mai bis September lebte und nicht nur für die in Hamburg, Braunschweig oder sonstwo arbeitenden Kinder immer ein Bett hatte, sondern auch für die entfernten Verwandten und Bekannten. So hat sie nach vielen schweren Jahren schließlich doch noch ein entspanntes und sorgenfreies Leben führen können. In manchen Schilkseer Häusern finden sich noch Blumen- Aquarelle, mit denen sie damals ihre Lebensfreude ausgedrückt hat.
Nach dem Tode meiner Großmutter nutzte meine Tante Edelgard Langsdorff mit ihrer Familie SCHIPPERS RUH fast 40 Jahre lang als Sommerfrische. Für sie und ihre Töchter ist das Haus mit ebenso viel Erinnerungen verbunden wie für uns.
Nun versuchen wir, die Häuser für die weit verstreute Familie zu erhalten. Zahlende Gäste helfen, die laufenden Kosten zu decken. Wie es weiter geht, die nächste Generation soll es entscheiden...